Ich habe einen Liebesbrief geschrieben. Normalerweise ist es mit Liebesbriefen ja so, dass man auf gar keinen Fall möchte, dass ihn irgendjemand außer der oder die Angebetete zu Gesicht bekommt.
Mit meinem Brief verhält es sich ein bisschen anders. Deshalb habe ich gleich 2000 Expemplare davon angefertigt. Besser wären natürlich 81 Millionen gewesen, denn so viele Menschen leben in Deutschland. Oder 7 Milliarden - dann hätte ich gleich die gesamte Weltbevölkerung abgedeckt. Aber man sagt ja: Jeder fängt mal klein an.
Ich also sehr motiviert in der Bahn. Es ist 6:20 Uhr und ich bin ganz allein in meinem Abteil, mit 50 Liebesbriefen in der Tasche und einem Herzen das ein wenig schneller schlägt als sonst, als ich anfange drei oder oder vier davon bedacht auf dem ein oder anderen Platz um mich herum zu legen - einen davon direkt mir gegenüber.
Macht man ja nicht alle Tage, wildfremden Menschen zu sagen, wie großartig sie sind. Auch wenn es stimmt. Weil ich ganz genau weiß, dass jede Seele etwas ganz Besonderes an sich hat, etwas überaus Liebenswertes, an das sie ganz oft einfach nur wieder erinnert werden muss.
Deshalb der Brief. Und weil in den Nachrichten gerade so schreckliche Dinge gezeigt werden und man bei sowas umso mehr von jenen süßen Momenten braucht, die einen meine Zeilen bescheren könnten, wenn man seine Augen und vor allem sein Herz nur offen hält. Das macht diese furchtbaren Dinge natürlich nicht ungeschehen, aber für den Augenblick schenkt es vielleicht ein Lächeln.
Aber ja ... mir geht es auch so ... Wenn ich am Abend die Nachrichten ansehe, möchte ich danach am liebsten die Decke über den Kopf ziehen und mit meinen Elfen und Einhörnern eine Runde Schnickschnack spielen, bis alles vorbei ist. Nein ernsthaft. Das ist alles furchtbar. Sehr sogar. Und es macht mich alles so traurig, dass ich in solchen Augenblicken überlege, ob der Name GLÜCKSkind wirklich so gut zu mir passt.
Doch dann denke ich wieder an meine Liebesbriefe und es wird mir gleich ein bisschen wärmer um die Brust, weil ich weiß, dass sie die Blumen sind, die ihr ganz unverhofft am Wegesrand pflücken könntet, wenn ihr GLÜCK habt und ich auch in eurer Stadt ein paar davon hinterlassen habe.
Aber zurück in die Realität - ich habe ja vorhin schon angemerkt, dass ich einen der Briefe direkt mir gegenüber niedergelegt habe. Das wird ein Spaß! Ich werde hautnah miterleben, wie ein mir noch unbekanntes Individuum auf meine geheimnisvolle Post stößt, sie gierig verschlingt und daraufhin hoffentlich ein seliges Lächeln seine Lippen ziert. Jedenfalls ist das der Plan - und nur, weil ich GLÜCKSkind heiße, bedeutet das nicht, dass alle Pläne die ich mir bis jetzt in den Kopf gesetzt habe auch aufgegangen sind.
Um etwa 7:15 Uhr erreicht mich dann jenes erste Individuum, das von den Worten meines Briefes verzaubert werden könnte, wenn es sich nur die Zeit nimmt, ihn sich genauer anzusehen. Es ist ein Teenager von vielleicht vierzehn Jahren und um diese Urzeit wohl auf dem Weg zur Schule. Weil ich weiß, dass mein Weg zur Schule nicht unbedingt von Freudensprüngen begleitet war, denke ich natürlich sofort: Ha! Perfekt! Das könnte ihn aufmuntern!
Ich - denkbar aufgeregt - luke also verstohlen hinter dem Rand meines Buches hervor und mustere den jungen Mann eingehend, folge seinem Blick, der für den Bruchteil einer Sekunde tatsächlich an meinem Brief hängen bleibt.
"Nimm ihn! Leß ihn!", rufe ich aufgeregt in Gedanken, bewahre jedoch mein Pokerface und blättere betont langsam eine meiner Buchseiten um, als wäre gar nichts. Und da hat er meinen Brief auch kurz in den Händen und ihn umgedreht ... um für maximal drei Sekunden auf der Rückseite zu verweilen. Klar. So schnell kann niemand lesen. Ich bin denkbar empört und überlege, ob es nicht besser gewesen wäre, ich hätte meine Liebesbotschaften auf Ipads ausgelegt - das wäre dann vielleicht eher ... zeitgemäß und würde bei der heutigen Jugend für weniger irritierte Blicke sorgen? Oh weh, wenn ich sowas schreibe, komme ich mir wie eine Oma vor. Also schnell wieder streichen.
Okay, vielleicht bin ich ein bisschen altbacken, wenn ich tatsächlich gedacht habe, dass Briefe noch irgendeinen interessieren könnten? Oder zumindest die Generation, die da vor mir sitzt. Es kommt nämlich noch besser: Das nächste Individuum setzt sich einfach drauf. So mir nichts dir nichts auf die persönliche Liebeserklärung! Wenn es jetzt noch einen fahren lässt, bin ich aber total aus dem Häuschen und sage meinem aalglatten Pokerface Lebewohl, um es gegen ein bestimmtes "Mach doch mal die Augen auf!" einzutauschen. Hmm. Ok. Mal sehen, was noch so passiert: Nicht viel. Denn meine Botschaft wird im wahrsten Sinne des Wortes die gesamte Fahrt über breitgesessen.
Später mache ich dann einen unauffälligen Streifzug durch das Abteil und sehe mir an, ob ein paar meiner Zeilen mitgenommen wurden. Von vier hat es einer in die Hände eines völlig Fremden geschafft und ich feiere diesen Sieg, als würde ich Eins mit einer Million verwechseln. Da ist es wieder, mein Talent mich über die kleinen Dinge zu freuen, denn die bedeuten oft das größte GLÜCK.
Bei den anderen sollte es eben nicht sein. So einfach ist das. Die, die etwas damit anfangen können, werden meine Liebesbriefe schon entdecken. Du zum Beispiel. Sonst hättest du dich ja nicht ins GLÜCKSnest verirrt. Natürlich muss das jetzt nicht heißen, dass du meinen Brief gelesen hast, aber vielleicht erreicht er dich ja trotzdem noch irgendwie. Wahre GLÜCKSritter sollten da nie die Hoffnung aufgeben.
Wenn du ganz lieb fragst, schicke ich dir auch gerne einen zu. Oder gleich zehn - dann kannst du in deiner Heimatstadt selbst als GLÜCKSfee aktiv werden. Umso mehr es von uns gibt, umso besser. Ich werde jetzt jedenfalls wieder losziehen und ein paar meiner Liebesbriefe "zufällig" am Wegesrand verlieren, während ich durch die Gässchen meiner Stadt schlendre. Einer muss die Menschen ja an das Gute in der Welt erinnern: Sich selbst und all die zauberhaften Farben ihrer Träume und Wünsche, die sie nie aus den Augen verlieren sollten.